Den Sturm erproben
Bei der Energiewende sollen Windparks in der Nordsee eine zentrale Rolle übernehmen. Wie das gelingen kann, untersuchen Küstenforscher des Hereon.

Foto: Hereon/ A. Reese
Mit Elmar kam der Herbst nach Deutschland: Das Sturmtief ließ im vergangenen Jahr die Temperaturen um bis zu zehn Grad fallen, Regen peitschte übers Land und entlang der Nordsee brausten stürmische Böen. Kein guter Tag für Ausflüge. Aber ein perfekter Tag für Spitzenleistungen: Denn an diesem 22. Oktober sorgte Tief Elmar in der Deutschen Bucht dafür, dass die dortigen Windparks an einem einzigen Tag 4.350 Megawattstunden Energie produzieren konnten – der höchste Wert für 2017. Und so viel Strom, wie an Land nur vier bis fünf sehr große Kohle- oder Atomkraftwerke gemeinsam erzeugen könnten.
Insgesamt lieferten die deutschen Windparks auf offener See im vergangenen Jahr 18 Terrawattstunden Strom – mehr als die Stadt Berlin in einem Jahr verbraucht. Immer deutlicher zeigt die Offshore-Windkraft so, was zu leisten sie imstande ist: Gerade einmal acht Jahre alt ist der erste deutsche Windpark, heute drehen sich bereits mehr als 1.000 Windräder über der Nordsee. Bis zum Jahr 2020 soll die Kapazität der Offshore-Parks nach Plänen der Bundesregierung auf 6,5 Gigawatt ausgebaut werden.
Damit dies reibungslos gelingt, forschen auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums Hereon bereits seit Jahren zum Thema.
- Wo zum Beispiel lohnt der Aufbau derartiger Anlagen besonders, weil stetig mit kräftigem Wind zu rechnen ist?
- Wie beeinflussen die Turbinen durch ihre riesigen Rotoren lokale Luftströme?
- Um welche Umweltrisiken können von den BAuwerken über und unter Wasser ausgehen?
An Fragen wie diesen arbeiten Experten ganz unterschiedlicher Fachrichtungen gemeinsam und bilden den Forschungsschwerpunkt „Offshore Windparks“ des Instituts für Küstenforschung. Viele überraschende Ergebnisse liegen bereits vor: So konnten Umweltwissenschaftler zum Beispiel nachweisen, dass die Nordsee rund um die Windkraftanlagen deutlich klarer ist – denn an den Turbinenpfeilern siedeln sich Muscheln an, die das Meerwasser filtern. Ozeanographen entwickelten mithilfe von marinen Radarbildern zudem eine Windprognose, die extrem kurzfristige Vorhersagen (30 bis 60 Sekunden) erlaubt – diese Daten könnten Betreiber von Offshore-Parks künftig nutzen, um ihre Anlagen optimal zu steuern. Und Sozialwissenschaftler untersuchten außerdem, wie an Land die Akzeptanz der oft als optisch störend empfundenen Masten gesteigert werden kann – auch bei so unterschiedlichen Gruppen wie Surfern, Fischern und Mitarbeitern von örtlichen Tourismusbüros.
Einige Projekte des Forschungsschwerpunkts „Offshore Windparks“ laufen vollkommen unabhängig voneinander, viele befruchten einander: Wo Umweltchemiker zum Beispiel Wasserproben entnehmen, bestimmen sie heute mit den Strömungsanalysen ihrer Kollegen.
Für in2science stellen drei Experten des Helmholtz-Zentrums Hereon auf den folgenden Seiten ihre speziellen Blickwinkel auf die Kraftwerke auf hoher See vor. Und erzählen von Erfolgserlebnissen und Rückschlägen beim Forschen für die Energiewende.
Dr. Beate Geyer: "Unsere Daten liefern optimale Zeitfenster für den Aufbau der Anlagen"

Foto: Hereon/ C. Schmid
Viele Monate dauert es, bis der Großrechner unsere Simulationen erstellt hat – schließlich werden Klimadaten aus den vergangenen 70 Jahren berücksichtigt. Erst einmal berechnet, erlauben die Modelsimulationen sehr konkrete Aussagen, die für den Bau von Windparks entscheidend sind, zum Beispiel: Welche Standorte bieten genug, aber nicht zu oft zu viel Wind? Mit wie hohen Wellen ist dort schlimmstenfalls zu rechnen? Und wann gibt es zuverlässig ruhigere Phasen, etwa für Versorgungsfahrten?
Die Antworten auf derartige Fragen liefert unser Datensatz coastDat, der für die Nordsee eine auf zwölf Kilometer genaue Analyse von Wind, Temperatur und Seegang erlaubt. So können wir die Klimabedingungen von Standorten einschätzen, für die keine originären Messdaten vorliegen.
Für die Betreiber von Offshore-Anlagen sind diese Informationen extrem wichtig: Unsere Daten entscheiden nicht gerade über die Standorte der Windparks, aber insbesondere darüber, wie lange es voraussichtlich dauert, diese aufzubauen. Denn dazu brauchen die Konstrukteure ruhige See. Schließlich sind die Anlagen riesig, manche Rotoren haben einen Durchmesser von 170 Metern. Bei stärkerem Seegang wäre ein Verladen im Hafen oder der Aufbau auf dem offenen Meer viel zu gefährlich. coastDat nennt deshalb optimale Zeitkorridore innerhalb eines Jahres, die in der Vergangenheit möglichst geringe Wellenhöhen zeigten. Es geht dabei aber nicht nur um die Sicherheit der Mannschaft: Die Transportschiffe sind in der Regel nur gechartert, lange Wartezeiten im Hafen kosten viel Geld. Deshalb verwenden in der deutschen Nordsee nahezu alle Betreiber von Windparks unsere Daten beim Bau und der Planung ihrer Anlagen.

Gezeitenströmung und Wasserstand: Der Datensatz coastDat basiert auf numerischen Modellen. Das Portal liefert seit mehr als 15 Jahren wissenschaftlich basierte Daten. Es wird zum Beispiel bei Planungen von Offshore-Windparks verwendet.
©DKRZ/Hereon
Generell kommt heute fast jeder zweite Nutzer von coastDat aus der Industrie, dabei wurde der Datensatz ursprünglich für die Klimaforschung entwickelt. Solche regionalen Simulationsergebnisse sind viel genauer als die sonst üblichen globalen Klimadaten – was nicht nur für Wissenschaftler, Behörden und Betreiber von Offshore-Anlagen wichtig ist: Unsere Daten helfen zum Beispiel auch bei der Konstruktion von Schiffen. Die Werften können mit ihnen viel besser einschätzen, welchen Belastungen ein Schiffsrumpf ausgesetzt sein wird.
Und auch bei den Windparks geht die Entwicklung weiter: Mit unseren Daten kann bestimmt werden, wann die Windräder auf hoher See und an Land welche Mengen an Energie einfangen und welche Energie die Solaranlagen synchron liefern – so lässt sich die Einspeisung ins Stromnetz an Land viel besser planen.
Dr. Jeffrey Carpenter: "Auch das Meer hat seine Jahreszeiten"

Foto: Hereon/ J. Lippels
Ich habe mich schon immer für Wasser interessiert – was vielleicht auch daran liegt, dass ich in Kanada aufgewachsen bin, in einer Region voller Seen. Schon seit meinem Studium liebe ich außerdem die Mathematik. In meinem Fachgebiet, der Strömungsmechanik, kann ich beide Leidenschaften vereinen. Denn zum Einen fahre ich für meine Projekte raus aufs Meer, vor allem, um mithilfe von Messrobotern Daten zu sammeln: Mit ihren Sonden registrieren die so genannten Glider Bewegungen des Wassers und messen vollautomatisch dessen Dichte und Temperatur.
Und zum Anderen berechne ich daraus zurück an Land verschiedene Simulationen, die das Strömungsverhalten des Wassers dokumentieren – und auch voraussagen können. Das ist wichtig, wenn wir abschätzen wollen, wie Meerwasser auf die Stützpfeiler von Windkraftanlagen reagieren. Mechanisch gesehen stellen sie Barrieren dar, auf die die See auf voller Länger prallt.
Speziell interessiert mich dabei die Schichtung von Gewässern: Fast alle Seen und Meere bilden im Querschnitt bestimmte Zonen aus, die sich in Temperatur und Dichte voneinander unterscheiden, mitunter sogar sehr stark. Im Sommer etwa erwärmt die Sonne die oberen Schichten der Nordsee, während die Wasserschicht am Meeresboden kühl bleibt. Im Winter erzeugen Abkühlung und Stürme schwereres Wasser, welches sich mit dem Bodenwasser mischt, das vom Sommer übrig geblieben ist. Auch das Meer hat also seine Jahreszeiten. Und seine saisonale Schichtung ist enorm wichtig für die Tiere, die dort leben, denn sie sorgt dafür, dass sie zum Beispiel gezielt Zonen mit besonders viel Nährstoffen, Licht oder Sauerstoff aufsuchen können.

Das Bild zeigt einen einzelnen Moment einer Large Eddy Simulation (LES). Man schaut von oben auf die Wasseroberfläche, die momentane Bewegung geht von links nach rechts. Blau zeigt eine starke Strömung an und rot eine schwache. Foto: Hereon/J. Carpenter
Allerdings: Zwischen den beiden Schichten findet sich meist eine trennende Zone, Thermokline genannt. Sie ist relativ ruhig und stabil, dagegen kommt es an der Meeresoberfläche durch Winde und am Grund durch Reibung relativ häufig zu Turbulenzen. Die Thermokline wirkt wie ein Puffer zwischen den unruhigen Zonen. Dieses fein ausbalancierte System könnte nun in der Nähe von Windkraft-Anlagen gestört werden. Denn deren Masten sorgen dafür, dass auch die normalerweise ruhige Zwischenzone aufwirbelt.
Seit vier Jahren untersuche ich, welche Auswirkungen diese Turbulenzen haben. Denkbar wären positive Effekte, etwa weil Nährstoffe aus den tieferen Ebenen emportreiben und Fische in den höheren Lagen mehr zu fressen finden. Aber auch die negativen Folgen müssen wir im Auge behalten, denn durch unsere Untersuchungen wissen wir, dass die Schichten sensibel reagieren: Ein einziger starker Sturm reicht aus, um die Nordsee bis zum Grund hinab zu durchmengen.
Diese enorme Wucht entfalten Windparks nicht. Allerdings sollen sie stark ausgebaut werden. Zigtausende Pfähle würden dann die Wassersäule durchmessen – und könnten weitaus größere Konsequenzen mit sich bringen.
Dr. Daniel Pröfrock: "Auch gute Ideen können Schaden anrichten"

Foto: Hereon/ C. Schmid
Ich arbeite gerne draußen auf See. Diese Momente abseits von Schreibtisch und Labor genieße ich, auch wenn unsere Fahrten und Kampagnen oft anstrengend sind. Zuletzt ging es Mitte April raus auf die Nordsee – für Wasser- und Sedimentproben aus der Nähe von Offshore-Windparks. Denn gemeinsam mit meinem Team und unserem Kooperationspartner, dem Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie BSH, untersuchen wir, inwiefern der Korrosionsschutz dieser Windparks Chemikalien freisetzt und ob diese sich nachteilig auf die Meeresumwelt auswirken – ein Thema, zu dem es aktuell kaum Informationen gibt.
Über und unter Wasser werden die Windkraftanlagen meist mit zwei Systemen vor dem Meerwasser geschützt: Einerseits werden die Oberflächen beschichtet – mit einem wilden Cocktail aus Chemikalien, darunter vielen Stoffen, die potenziell umweltschädlich sind. Zum Anderen sind die Fundamente mit sogenannten Opferanoden bestückt. Mehrere Tonnen Anodenmaterial, das meist aus einer Aluminiumlegierung besteht, schützen das eigentliche Bauwerk vor Korrosion. Damit wird die Anlage standfester und haltbarer gemacht. Die Anode opfert sich quasi auf, setzt dabei aber problematische Legierungsbestandteile frei, zum Beispiel hochgiftiges Cadmium und Blei.

Mit einem Kastengreifer wird Sediment vom Meeresboden hochgeholt. Foto: Hereon/ A. Reese
Auch Schiffe nutzen solche Anoden. Es ist aber noch vollkommen unklar, welche Folgen sich für die umgebende Meeresumwelt ergeben, wenn solche Schutzsysteme in immer größerem Stile an den in der Nordsee betriebenen Windparks eingesetzt werden. Deshalb untersuchen wir das Meerwasser und den Boden rund um die Fundamente: Wir wollen wissen, ob und mit welchen Belastungen und Risiken langfristig rund um die Pfeiler zu rechnen ist.
Noch in diesem Jahr wollen wir dazu mit unserem Hereon Forschungsschiff Ludwig Prandtl noch einmal hinausfahren, um sogenannte Passivsammler in einem Windpark auszubringen: Ein bis zwei Monate lang verbleiben diese dann an verschiedenen Stellen innerhalb des Parks und liefern uns Daten über die chemische Zusammensetzung des Wassers. Am Seil, das die Passivsammler fest zwischen einer Boje und dem Meeresboden verankert, wollen wir außerdem Muscheln ausbringen, um zu prüfen, ob sich in ihrem Gewebe bestimmte Schadstoffe anreichern.
Unsere Ergebnisse werden unseren Projektpartnern dabei helfen, geeignete Richtlinien für die Betreiber von Windparks beziehungsweise den zukünftigen Genehmigungsprozess von neuen Offshore-Parks zu erarbeiten:
- Welche Beschichtungssysteme sollen sie einsetzten dürfen?
- Wo und wie oft soll die Wasserqualität geprüft werden?
- Und wie gefährlich sind die gängigen Oferanoden?

Der Wasserschöpfer wird von Bord gelassen. Er sammelt automatisch Meerwasser aus verschiedenen Meerestiefen. Wieder zurück an Land werden die Proben in den Geesthachter Laboren untersucht. Foto: Hereon/ A. Reese
Schließlich gäbe es Alternativen: Man könnte die Fundamente der Windräder auch durch sogenannte Fremdstrom-Systeme schützen. Dabei werden die Anlagen leicht unter Strom gesetzt, was Korrosionsprozesse unterbricht. Derartige Systeme werden zum Beispiel bei Pipelines oder im Brückenbau eingesetzt, auch erste Windparks arbeiten damit. Die Methode hat sich also bewährt – ist aber teuer. Wenn wir zukünftig sicherstellen wollen, dass Offshore-Anlagen wirklich sauberen Strom liefern, müssen wir darauf achten, dass die Windparks keine neuen Umweltprobleme schaffen. Auch gute Ideen können schließlich Schaden anrichten.
Autorin: Jenny Niederstadt
Erschienen in der in2science #6 (Juni 2018)